Heteropaar mit Papierherzen in der Hand

Wenn Treue zur Frage der Definition wird

„Ich verstehe nicht, wie ihr das machen könnt. Wenn ich jemanden wirklich liebe, würde ich doch keine anderen Menschen wollen!“ – Eine Aussage, die in monogam geprägten Kulturen tief verankert ist. Sie zeigt, wie sehr Liebe und sexuelle Exklusivität oft als untrennbar wahrgenommen werden. Doch was, wenn das nicht für alle gilt? In queeren, polyamoren oder offen geführten Beziehungen wird diese Kopplung immer wieder hinterfragt. Die Vorstellung, dass Liebe und sexuelle Treue zwingend zusammengehören müssen, wird dort nicht selten als Mythos erlebt.

In diesem Artikel beleuchte ich aus psychologischer und paartherapeutischer Sicht, warum Menschen offene Beziehungen leben, wie sie diese gestalten, wo bestimmte Herausforderungen liegen und wie eine professionelle Begleitung durch Paartherapie dabei unterstützen kann. Ein Interview mit mir zu dem Thema ist außerdem in der Juni-Ausgabe des Display Magazin nachzulesen.

Vielfältige Modelle offener Beziehungen

„Offene Beziehung“ ist ein Sammelbegriff. Tatsächlich gibt es eine ganze Bandbreite an nicht-monogamen Beziehungskonzepten:

  • Offene Beziehung (sexuell offen): Emotionale Exklusivität, aber sexuelle Kontakte außerhalb der Beziehung sind erlaubt.
  • Polyamorie: Mehrere gleichwertige, emotionale und ggf. sexuelle Beziehungen nebeneinander.
  • Beziehungsanarchie: Beziehungen werden ohne hierarchische Abstufung frei gestaltet, Labels wie „Partner*in“ oder „Affäre“ verlieren an Bedeutung.
  • Don’t Ask, Don’t Tell: Sexuelle Kontakte außerhalb sind erlaubt, aber werden nicht thematisiert.
  • Monogamie mit Ausnahmen: Eigentlich monogam, aber mit gemeinsam definierten Ausnahmen (z. B. im Urlaub, oder nur gemeinsame Begegnungen wie Dreier).

Diese Modelle zeigen: Es geht weniger um „alles darf“ oder „alles muss“, sondern um bewusste Auseinandersetzung mit Werten, Bedürfnissen und Grenzen. Jedes Modell bringt andere Regeln, Chancen und Herausforderungen mit sich. Wichtig ist, dass es sich um bewusste Entscheidungen handelt, die auf Kommunikation und Konsens beruhen. Eine offene Beziehung ist nicht „weniger“ als eine monogame, sondern oft „mehr“ – mehr Kommunikation, mehr Reflexion, mehr bewusste Gestaltung. Gerade in queeren Kontexten, in denen normative Drehbücher fehlen oder bewusst abgelehnt werden, entstehen neue Beziehungsmodelle, die mit großer Sorgfalt und Integrität gelebt werden.

Das Kürzel ENMB bezeichnet „einvernehmlich non-monogame Beziehungen“ und steht damit allgemein als Begriff für offene Beziehungen, die nicht heimlich oder einseitig, sondern abgesprochen geführt werden.

People Relationship Communication

Was offene Beziehungen gelingen lässt

Offene Beziehungen funktionieren nicht einfach „nebenbei“. Sie erfordern bewusste Gestaltung, Vertrauen und emotionale Arbeit. Hier einige Prinzipien, die in der Praxis tragfähig sind:

1. Ehrlichkeit und Kommunikation
Ein zentrales Fundament ist die Bereitschaft, offen und ehrlich über Gefühle, Bedürfnisse und Unsicherheiten zu sprechen. Nicht nur über den Sex mit Dritten – sondern auch über Ängste, Nähebedürfnisse, Abgrenzungswünsche und Wünsche nach Stabilität. Kommunikation ist kein einmaliger Klärungsakt, sondern ein dauerhafter Prozess.

2. Klare Regeln und Vereinbarungen
Gemeinsam getroffene Absprachen schaffen Orientierung und Sicherheit. Dabei geht es nicht nur um konkrete Handlungen („Was darf mit wem passieren?“), sondern auch um emotionale Leitlinien. Regeln sollten jedoch flexibel bleiben. Was heute passt, kann sich mit Zeit, Entwicklung und Erleben verändern. Die Kommunikation über Regeln – und was passiert wenn diese gebrochen wurden – sollte regelmäßig stattfinden.

3. Emotionale Sicherheit stärken
Menschen, die sich in ihrer Kernbeziehung (die zentrale, priorisierte Partner*innenschaft) sicher und gesehen fühlen, können mit Ambivalenz besser umgehen. Eine offene Beziehung braucht nicht weniger Bindung. Grundlegend beruht sie in den allermeisten Fällen auf Sicherheit. Rituale der Nähe, verlässliche emotionale Präsenz und liebevolle Kommunikation stützen das „Wir“, das trotz Offenheit bestehen bleibt. In der Beziehungsanarchie wird die Idee einer Kernbeziehung bewusst abgelehnt und die Gleichwertigkeit aller Beteiligten betont.

4. Eifersucht als Signal verstehen
Eifersucht ist nicht automatisch ein Zeichen dafür, dass etwas falsch läuft. Sie kann auf Unsicherheiten, unerfüllte Bedürfnisse oder alte Beziehungserfahrungen hinweisen. Wer bereit ist, Eifersucht nicht als „Fehler“ zu betrachten, sondern als Einladung zur Reflexion, kann viel über sich und die Beziehung lernen. Auch hier sollte gemäß des Beziehungskonzepts offen thematisiert werden, welche Gefühle wann und wie ausgelöst werden.

5. Safer Sex & emotionale Hygiene
Offene Beziehungen erfordern nicht nur körperliche Sicherheit (Verhütung, STI-Schutz), sondern auch emotionale Achtsamkeit. Dazu gehört, die eigene emotionale Belastbarkeit zu kennen, Verantwortung für das eigene Handeln zu übernehmen und Rücksicht auf das Wohlbefinden der Partner*innen zu nehmen.

Holzfiguren mit schockiertem Gesicht

Mögliche Fuckups: Was schiefgehen kann

So reflektiert offene Beziehungen auch sein können – sie sind kein Allheilmittel. Es gibt Fallstricke, die häufig zu Krisen führen:

1. Öffnung als Rettungsversuch
Wenn eine Beziehung in der Krise steckt und die Öffnung als „letzte Hoffnung“ dienen soll, ist das Risiko für einen Fehlschlag oder weitere Verletzungen groß. Eine offene Beziehung funktioniert nur auf einem stabilen Fundament und nicht als Ausweichstrategie oder Fluchtweg aus den eigentlichen Problemen.

2. Verletzung unausgesprochener Erwartungen
Oft scheitert es nicht an dem, was passiert, sondern an dem, was nicht ausgesprochen wurde. Wer davon ausgeht, dass der*die andere „schon weiß, wie ich das meine“, riskiert Missverständnisse und Verletzungen. So hilfreich es vielleicht manchmal wäre: Wir können anderen nicht in den Kopf schauen. Nur explizite Kommunikation schafft Klarheit.

3. Vergleiche und Konkurrenzdenken
Das Wissen um weitere Sexual- oder Beziehungspartner*innen kann Unsicherheiten auslösen: Bin ich genug? Was hat die andere Person, was ich nicht habe? Was, wenn ich für jemand anderes verlassen werde? Hier hilft es, nicht in Konkurrenz zu denken, sondern im Vertrauen auf die eigene Einzigartigkeit. Sich Bestätigung zu wünschen, ist vollkommen nachvollziehbar.

4. Kommunikationsmüdigkeit
Offene Beziehungen brauchen viele Gespräche. Wenn jedoch keine Zeit oder kein Raum für Austausch da ist, entstehen stille Konflikte. Eine Beziehung muss gepflegt werden – auch (und gerade), wenn sie nicht-exklusiv ist. Wer auf große Herausforderungen stößt, um einen passenden Zeitpunkt für das Ansprechen von Sorgen zu finden, kann in einem Therapiesetting Hilfe erhalten. Hier nehmen sich Betroffene ausreichend Zeit und den Raum für einen intensiven Austausch und Unterstützung durch einen Blick von außen.

5. Verliebtheit wird tabuisiert
Wenn eine neue emotionale Verbindung entsteht, kann das tabuisiert oder verdrängt werden – aus Angst, die Hauptbeziehung zu gefährden. Doch genau dann ist Transparenz besonders wichtig. Nur so kann mit Reife und Verantwortung damit umgegangen werden. An dieser Stelle ist der Gedanke wichtig: Ist Verliebtheit gleich Liebe?

Wie wir aus Sicht der Psychologie mit ENMB arbeiten können

In der systemischen und emotionsfokussierten Paartherapie ist nicht nur die Struktur der Beziehung entscheidend, sondern die Qualität der Bindung. Das heißt vereinfacht gesprochen: A) Sicher gebundene Menschen können tendenziell eher mit Ambivalenz und Offenheit umgehen. B) Nicht-monogame Beziehungen funktionieren dann gut, wenn sich Menschen gesehen, sicher und zugehörig fühlen.

In der Praxis erlebe ich die Themen in der Regel durchmischt. Paare kommen einerseits, weil die Neugier da ist oder der Wunsch, die Beziehung öffnen zu wollen. Dies kann Vorfreude auslösen, andererseits empfinden die Menschen aber oft Überforderung, Scham oder Verunsicherung.

Ein Blick auf vielfältige Lebensrealitäten und das Hinterfragen von Mononormativität als scheinbar festsitzenden Standard geben oft wichtige Impulse. Ganz besonders habe ich mich zum Beispiel über den folgenden Satz eines Paares gefreut:

„Wir müssen nicht so tun, als wären wir ein ganz normaler Ehebaukasten.“

Quellen: